Esmarch versus Quincke, Professoren als „öffentliche Bekenner“ streiten gern, sie müssen sogar streiten. Auch Medizinprofessoren. Dabei schadet der Streit der Wissenschaft grundsätzlich nicht. Oft setzt sich das Richtige durch. Aber nicht immer und selten zum richtigen Zeitpunkt. Mancher, der Recht hat, erlebt es nicht mehr. So ist es bei der hier beschriebenen Auseinandersetzung zwischen einem Chirurgen und einem Internisten, die um 1900 weit über Kiel hinaus internationales Ansehen genossen. Ihre jeweils unterschiedliche gesellschaftliche Stellung spielte dabei eine mitentscheidende Rolle.
Als ersten nenne ich Friedrich von Esmarch (9.1.1823, Tönning – 23.2.1908, Kiel). Ab 1854 leitete er die Kieler Chirurgische Klinik, 1857 wurde er Professor. In erster Ehe war er mit der Tochter seines Vorgängers Stromeyer verheiratet, ja er war überhaupt erst über diese Ehe auf seinen Posten gekommen. Nach deren Tod erschien „Fiete Isbüdel“, wie die Kieler Esmarch nannten, als gute Partie. Seine zweite Gattin Henriette, eine Prinzessin aus dem Hause Schleswig-Holstein-Sonderburg-Augustenburg und Tante Kaiser Wilhelms II., fiel den Zeitgenossen nicht nur durch ihre Herrschsucht, sondern durch ihre unübersehbare Häßlichkeit auf. Die Fabel ging, daß sie ihn und nicht er sie geheiratet habe, nachdem sie seine zufriedene Patientin gewesen war. Kieler Straßenjungs sollen hinter Henriette hergelaufen sein und sie verspottet haben. Sie drohte mit einem Regenschirm zurück.
Im Deutsch-Dänischen Krieg 1864 und als Generalarzt der Reserve im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71 entwickelte Esmarch lebensrettende Verbandspäckchen für Soldaten und seit 1873 die Methode der künstlichen Blutleere bei Operationen. 1882 wurde von ihm der Deutsche Samariterverein begründet. 1887 wurde Esmarch in den erblichen Adelsstand erhoben.
Sein Widerpart war Heinrich Irenaeus Quincke (26.8.1842, Frankfurt (Oder) – 19.5.1922, Freitod in Frankfurt am Main). Er stammte wie Esmarch aus einer bürgerlichen Ärztefamilie.
Als Internist war Quincke für alle Patienten (außer den chirurgischen, gynäkologischen und ophthalmologischen Fällen) zuständig. Er setzte sich stark für die Schaffung neuer Spezialfächer ein. Seine Erstbeschreibung des „Quincke-Ödems“ (1882) erinnert die Dermatologen der ganzen Welt heute noch an ihn. Vergessen ist meist, dass er die Lumbalpunktion entwickelt hat, eine noch heute geübte und wichtige diagnostische Maßnahme.
Zwischen 1909 und 1922 wurde er mehrfach für die Verleihung des Nobelpreises für Medizin und Physiologie vorgeschlagen. Warum bekam er den Nobelpreis nicht? Die Akten des Osloer Komitees begründen dies damit, daß seine Entdeckungen zu lange zurücklagen, während der Stifter Nobel eine zeitnahe Entdeckung verlangt hatte.
Persönlich trat Quincke bescheiden und zurückhaltend auf, akribisch in seiner Arbeit und den Patienten und Mitarbeitern gegenüber sehr zugewandt. Seine Gattin stammte aus einem bürgerlichen, sehr gebildeten Berliner Hause. Esmarchs und Quinckes wohnten als Direktoren der Königlich Akademischen Heilanstalt am nördlichen Ende des Kieler Schloßgartens – nach Meinung Esmarchs mit lebenslangem Wohnrecht – in jeweils einer repräsentativen Dienstvilla. Wegen der Enge ihrer Kliniken (die Internistische Klinik nahm das Erdgeschoss der Akademischen Heilanstalt ein, die Chirurgische Klinik das 1. Obergeschoss) forderten beide – entsprechend dem medizinischen Fortschritt – Neubauten für ihre Klinikbedürfnisse. Aber wer sollte der erste Glückliche sein? Man verfolgte mit Mißtrauen die Schritte des jeweils anderen, die Ehefrauen wirkten dabei tatkräftig mit.
Quincke schlug vor, die beiden Dienstvillen zu schleifen und an ihrer Stelle auf dem nach Süden hin abfallenden Gelände für die Tuberkulosekranken eine lichtdurchflutete Klinik zu bauen. Er betrieb das geschickt bei den preußischen Behörden in Berlin und wollte die älteren Klinikbaupläne Esmarchs konterkarieren. Als Esmarch davon erfuhr (1892), war das seit langem äußerst gespannte Vertrauensverhältnis endgültig zerstört.
Am 1.10.1893 räumte Quincke seine Dienstwohnung und stellte sie großzügig seinen Assistenzärzten zur Verfügung. Er zog auf Wunsch seiner Frau in die 1864 von dem Nationalökonomen Wilhelm Seelig erbaute prächtige Privatvilla auf dem Gelände der heutigen Kinderklinik. So wollte er Esmarch zwingen, seinem Beispiel zu folgen. Der auf sein lebenslanges Wohnrecht pochende, inzwischen 70jährige Esmarch dachte nicht daran.
Nachdem die Quinckeschen Baupläne durch Esmarch zunehmend gestört wurden, drohte Quincke am 27.8.1899 seinen Rücktritt an. Die Kieler Fakultät tat jedoch alles, um ihn nicht zu verlieren, und wählte ihn mit der ganzen Universität etwas später zum Rektor.
Natürlich landete der Streit in Berlin, wo man zwar Esmarchs Kaisernähe sah, aber auf der anderen Seite doch glaubte, daß er egoistische, Quincke hingegen wissenschaftlich begründete Ziele verfolge. Man versuchte dem Kieler Rektor Quincke entgegenzukommen, der bei der Rektoratsübernahme durch die Kieler Studentenschaft mit einem Fackelzug geehrt worden war. Über 600 Fackeln waren gezählt worden und das bei einer Gesamtzahl von ca. 1000 Studenten an der Universität.
Dennoch, zu einem Klinikneubau für Quincke kam es nicht. Esmarch wurde nicht aus seinem Haus vertrieben, im Gegenteil wurde ihm sogar eine neue Chirurgische Klinik gebaut, die am 1.12.1904 sein Nachfolger Helferich eröffnen konnte (heute: Alte Chirurgie). Esmarch starb am 23.2.1908, seine Gattin blieb bis zu ihrem Tod am 18.10.1917 in der Dienstwohnung.
Nicht gerade zartfühlend hatte Quincke knapp drei Wochen nach Esmarchs Tod, am 14.3.1908, seinen Klinikneubau und den Abriß der Esmarchschen Dienstwohnung angemahnt. Das war selbst den Berliner Beamten zu hart, die einen Neubau an der von Quincke gewünschten Stelle ablehnten. Von Herzen gedemütigt verließ Quincke Kiel und stellte seine ganze Lebensleistung in Frage. Immer wieder wird behauptet, dass seine Selbsttötung damit zusammenhänge. Es war ihm tatsächlich nicht gelungen, eine neue Internistische Klinik, so notwendig sie war, bauen zu lassen. Vielmehr (auch wegen der Kriegsereignisse) wurde erst um die Zeit seines Freitodes, also Anfang der 1920er Jahre, unter der Leitung des damaligen Ordinarius für Innere Medizin, Alfred Schittenhelm, das ehemalige Marinelazarett an der Feldstraße für die Universität erworben und für die Anforderungen einer Medizinischen Klinik zu der heutigen Klinik für Innere Medizin umgebaut.
Prof. Dr. phil. et med. habil. Christian Andree, Medizinhistorische Forschungsstelle der Christian-Albrechts Universität zu Kiel